Großbritannien – Estimation Nation

Heute freue ich mich besonders, Ihnen unser Mitglied der ersten Stunde "Libertin", auch im freien Bereich als neuen Kolumnisten des Blogs vorzustellen. Eine Kurzvita finden Sie -> hier <-.

Libertin hat sich in seiner Kolumne "Libertannica" vor allem Großbritannien verschrieben, da er als regelmäßigen Pendler zwischen den Ländern, viel Zeit vor Ort verbringt. Dabei hat er sich aber auch die Distanz und den unabhängigen Blick des Ausländers bewahrt.

Innenansichten aus Großbritannien, werden für uns in den kommenden Jahren besonders wichtig sein, da das Geschehen nach dem Brexit in seinem potentiellen Erfolg wie Mißerfolg, massive Auswirkungen auf Deutschland und die europäische Union haben wird. Unabhängig davon, ist der Finanzplatz London sowieso mit einer Reihe hoch spannender und attraktiver Unternehmen bestückt.

Libertins Kolumne soll den Bogen von Landeskultur, Alltagserfahrungen und Politik bis zu den Finanzmärkten schlagen und so die Mr-Market-Mitglieder mit Einsichten und Opportunitäten zum Vereinigten Königreich bereichern.

Nun wünsche ich Ihnen viel Spass bei einem Artikel der Libertannica! Ihr Hari

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Nationalcharakter? Ein engstirniges Wort, zu recht veraltet. Doch die Abwehr von Stereotypien darf andererseits nicht blind machen für Unterschiede und Eigenheiten. „Andere Länder, andere Sitten“ - das ist zwar komplett abgegriffen, trifft es aber schon eher. Auch Gesellschaften, die begrifflichen Nachfolger der Völker, haben schließlich geteilte Sichtweisen, Denk-, Kommunikations- und Gefühlsmodelle, bestehen sogar in gewisser Weise geradezu aus ihnen. Und nicht immer verlaufen die Trennlinien zwischen den Denkstrukturen entlang der bekannten Klischees, mit denen sich die Nationen das Nachdenken über ihre Nachbarn einfach machen.

Oft sind diese Dinge daher schwer zu fassen. Wenn ich in meiner Kolumne „Libertannica“ hier solche Eigenheiten Großbritanniens aufgreife, dann gehe ich wohl oder übel von subjektiven Eindrücken aus, ohne Anspruch auf universale empirische Gültigkeit, ein Zickzack mal den Klischees entlang, mal quer zu ihnen.

Schwer zu fassen ist für mich auch folgendes Thema, das mir aber wichtig vorkommt, mir immer wieder auffällt - eigentlich eher ein Bündel von Themen. Ich will es versuchsweise unter dem – nicht wertend gemeinten – Stichwort „(Un-)Genauigkeit“ ansprechen. Zu diesem unübersichtlichen Bündel gehörten auch das britische „Durchwursteln“, von dem hier schon die Rede war, die Pragmatik, die Flexibilität, das Zugleich von puritanischer Strenge und Permissivität, sowie vieles mehr. Aber irgendworan muß man die Sachen ja aufhängen.

Ist Genauigkeit eine Zier? Oder schlägt Präzision prompt in lähmende Pedanterie um? Der aufdringlich oft zitierten deutschen Pünktlichkeit steht in der englischen Welt eine seltener erwähnte Laxheit entgegen, eine oft verblüffend nonchalante Einstellung, mit einem vielsagenden Idiom vielleicht zu bezeichnen als „a cavalier attitude“. Aber Achtung, die folgenden Beispiele und Gedanken sind willkürlich und ohne Gewähr...

Erstmals beobachten kann der Neuankömmling dies gleich bei der Wohnungssuche, zumindest wenn es sich um eine Mietwohnung handeln soll. Die große Überraschung: In den Anzeigen findet sich keine Angabe der Fläche. Wohnungen werden nach der Anzahl der Zimmer eingeteilt und allenfalls noch mit einem Adjektiv als „groß“ oder „geräumig“ beschrieben. Die Größe muß der Makler auf Nachfrage erst einmal nachschlagen und hat womöglich keine befriedigende Antwort. Die Idee, gar einen Quadratmeterpreis auszurechnen, erscheint dann vollends als neurotische Pfennigfuchserei. Das mag nun auch damit zusammenhängen, daß Mieten in UK traditionell einen Ruf als Übergangslösung genießt, daher ja auch die Häufigkeit möblierter Wohnungen am Mietmarkt: Vielleicht muß man es da nicht so genau sein wie beim Immobilienerwerb. Trotzdem ist dieses Wischi-Waschi aus deutscher Sicht erstaunlich.

Die Ungenauigkeit hat dabei aber eine ganz wichtige positive Dimension: die Großzügigkeit. Das zeigt sich etwa im Kernbereich des britischen gesellschaftlichen Miteinanders, beim Pub-Besuch. Die allerwichtigste kulturelle Lektion für jeden ausländischen Gast ist die vorauseilende Bereitschaft zum Bestellen von Runden. Geiz ist hier eine unaussprechlich üble Erzsünde, total ungeil.

Die Runden wecheln zwar im Lauf des Abends ab, aber keinesfalls wird penibel mitgezählt, ob man auch auf seine Kosten gekommen ist, wenn man aufbricht. Der Abgrund an Peinlichkeit ist erreicht, wenn ein deutscher Besucher dem Rundenholer verschämt eine Fünfpfundnote hinstreckt, um das eigene Bier auszulösen. Oh no! Wobei hinter dieser Großzügigkeit ein subtiles Wertesystem am Wirken ist, das das Verhalten unmerklich reglementiert. Wer sich notorisch vor seinen Runden drückt, wird irgendwann dann doch auffallen und geächtet werden. Geben und Nehmen als elegante Dialektik.

Mit diesem Widerspruch ist der Bereich der britischen Höflichkeit berührt. Selbstzurücknahme ist zentral, etwa beim zivilisisierten Schlangestehen, einer hohen Errungenschaft, über die zu spotten den notorisch rückichtslosen Deutschen nicht gut ansteht. Auch Lügen ist etwa moralisch strengstens verpönt – man erinnere sich an den allgemeinen Aufschrei hierzulande vor ein paar Jahren über den Spesenskandal im Unterhaus.

Andererseits ist im Bereich der Höflichkeit das Lügen geradezu vorgeschrieben. „How are you?“ Wehe dem, der darauf zur ehrlichen Antwort ansetzt. Er merkt nach langen Monolog-Minuten, daß das Interesse an der eigenen Gesundheit eher Konvention geschuldet war als Anteilnahme. Und dennoch ölt dieses rituelle Ballett der Unehrlichkeit das soziale Miteinander auf eine bewundernswerte Weise. Böse Zungen behaupten, es führe auch zu einer gewissen Verklemmtheit.

Einen weiteren Unschärfebereich im häuslichen Leben will ich noch anfügen: die Abrechnung mit Versorgern. Was in Deutschland allenfalls in vernachlässigten Altbauten anzutreffen ist, stellt in Großbritannien den Regelfall dar: Wohnungen ohne Wasserzähler. Berechnet wird nach „Haushaltsgröße“ - ein Schätzwert also, wobei die Fläche hier aus erwähnten Gründen eher eine Nebenrolle spielt. Über 40% der Haushalte hätten heute einen Wasserzähler, verkündet stolz der Industrieverband -> Water UK<-. Das heißt, 60% haben keinen. Shocking.

Auch wenn die Versorger selbst nicht unbedingt ein Interesse haben, ihre Abnehmer zum Wassersparen zu verleiten, ist hier nun aber doch etwas in Bewegung gekommen: Ganz Britannien soll mit Smart Metering ausgestattet werden.

Wassersparen im Zweiten Weltkrieg

(Bild: Analogmetering, wie es die Britische Regierung ihrer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg zum Wassersparen empfahl. Mit Dank von -> Wikipedia <-)

Die Regierung hat, auf Anregung der EU übrigens, vor einigen Jahren eine Smart-Metering-Inititative gestartet. Von 2015 bis 2020 sollen alle Haushalte mit elektronischen, digital vernetzten Datenerfassungssystemen ausgestattet werden. Man überspringt also gewissermaßen das Analogzeitalter. Die neue Technologie hat für den Verbraucher, und damit auch für die Umwelt, klare Pluspunkte: Man kann sich ein genaues Bild über den eigenen Wasser- und Energiekonsum machen und ihn nach Belieben optimieren. Doch auch für die Versorger ist der Datenpool attraktiv, können sie doch das Konsumverhalten in Google-Manier durchleuchten und das Marketing darauf abstellen.

Deswegen gibt es auch schon Boykottaufrufe wie -> Stop Smart Meters<- gegen den Technologie-Rollout. Prinzipiell berechtigte Sorgen, ebenso wie die Angst vor etwaigen Hackern. Weniger nachvollziehbar: Panik vor "Strahlenverseuchung" durch Funkübertragung der Daten. Dann gab es Berichte über Meßfehler mancher Geräte oder auch faktisch gestiegene Kosten nach Installation. Das alles wird den Siegeszug der digital integrierten Gas-Wasser-Strom-Zählung aber wohl nicht stoppen. Im Fokus steht hier zwar nicht nur Wasser, sondern vor allem Energie - aber auch wenn Stromzähler natürlich jetzt schon verbreitet sind in UK, so ist doch generell die Infrastruktur in schlechterem Zustand als in Deutschland.

Nutznießer sind dabei aber auch auf Smart Metering spezialisierte Firmen, die die Geräte zwar nicht herstellen, aber anschaffen, installieren, warten und vermieten. Es mag überraschen, daß die Versorger das nicht einfach in Eigenregie durchführen, sondern oft auslagern. Aber so ist es offenbar oftmals Praxis, und das Geschäftsmodell scheint attraktiv, so stabil eben wie das der Versorger selbst, aber mit aufregenderen Wachstumsraten - noch.

Als Beispiel und Anregung hier die schottische Firma -> Smart Metering Systems PLC<- (Martkkap. ca. 500 Mio. GBP), deren Kurs sich in jüngster Zeit zu neuen Höhen aufschwingen konnte. Natürlich hat sich das alles auch lange schon bei den Anlegern herumgesprochen – vermutlich gefällt die eingängige Zukunftsstory und die Kombination aus „Growth“ und „Stabilität“.

Kritische Fragen wären, wie die auf Finanzierung angewiesene Firma mit einem Zinsanstieg umgehen würde, oder wie die strukturelle Reduktion der ca. 50% Installationsumsätze langfristig ausgeglichen werden kann. Daß der jüngste Kursanstieg (hier ein Link zu -> Stockcharts<-) ungebremst weitergeht, erscheint daher fraglich. Dennoch vielleicht ein beobachtenswertes Unternehmen, dessen Geschäftsmodell zumindest für die Lebensdauer der aktuellen Technik gesichert wirkt.

Der Rückenwind der Regierung fürs Smart Metering sollte jedenfalls auch nach dem Brexit erhalten bleiben. Daß man sich allseits bemüht, zeigt etwa diese lustige Kampagne der zentralen Smart-Metering-Lobby-Gruppe: In den Spots mit dem Motto -> Estimation Nation<- wird der Schätzerei den Kampf ansagt - hier am Beispiel eines Supermarktkassierers, der die Einkäufe einfach nur abschätzt, aufgezeichnet von einer versteckten Kamera. Das geht nun auch dem britischen Durchschnittseinkäufer zu weit.

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