Der „Gründler“ und der „Measured Move“

Es gibt eine gewisse Art von Denkstrukturen, die sich ganz besonders schwer am Markt tun. Wir nennen das immer den "Gründler", das ist der durchweg gebildete, gut ausgebildete Anleger, der aber - zum Beispiel als Ingenieur - in Fachdisziplinen zu Hause ist, in denen man die Dinge exakt "messen" kann und in denen die Investition in eine noch tiefergehende, feingliedrige Analyse, zusätzliche Erkenntnisse verschafft.

Das ist auch bei allen "Dingen" und Naturgesetzen so, die nach replizierbaren und berechenbaren Mechanismen funktionieren. Die Charakteristika eines Automotors kann man messen. Und wenn man dann am Folgetag wieder zur Testinstallation tritt und die Messung erneuert, nur im Detailgrad vertieft, wird man - von geringen und auch wieder replizierbaren und berechenbaren Umwelteinflüssen wie Temperatur abgesehen - wieder zum nahezu identischen Ergebnis kommen, nur eben mit einem höheren Detailierungsgrad.

Dieses Prinzip, durch tiefere Analyse zu besseren Ergebnissen zu kommen, weil das Objekt der Untersuchung eben ein zuverflässig replizierbares Verhalten nach festen Naturgesetzen zeigt, ist bei diesen "Gründlern" so tief in die Denkstrukturen eingegraben, dass es unreflektiert auf den Aktienmarkt übertragen wird.

Deswegen ist auch das gerade in Deutschland gerne verbreitete -> Zerrbild des Value-Investing <- bei diesen Anlegern so beliebt, obwohl es gar nicht mehr so wie dargestellt funktionieren kann. Benjamin Grahams Buch "The intelligent Investor", das diesem Blog auch seinen Namen gab, ist immer noch ein Meilenstein der Börsengeschichte. Aber die darin dargestellten Methoden können im Jahr 2017 nur einen viel kleineren Edge als damals generieren - wenn überhaupt, weil alles für jeden mit einem Fingerklick verfügbar ist, wofür ein Graham viel Fleiss in Bibliotheken aufbrachte und sich damit einen Vorteil gegenüber dem Rest der Herde verschaffte.

Die Illusion, durch intensives Studium der öffentlichen Zahlen eines Unternehmens sich einen Vorteil am Markt zu verschaffen, ist für die Denkstrukturen des Gründlers aber so attraktiv, dass er von diesen Logiken geradezu angezogen wird. Und deshalb werden sie natürlich auch vermarktet, sie verschaffen Abonnenten und bei Fonds zufliessende Gelder.

Nur dummerweise funktioniert der Markt nicht so und was jeder mit einem Klick zur Verfügung hat, verschafft keinen Vorteil mehr. Der Markt ist ein -> reflexives <-, selbstreferentielles soziales System, was bedeutet dass wenn man zu lange "misst", die Messung unsinnig wird, weil der Markt sich schon längst weiterbewegt hat.

Es ist nicht Thema dieses Artikels, in die reflexiven Mechanismen einzusteigen, klar ist nur, dass der Typus "Gründler" mit seinem Ansatz zwangsläufig scheitern muss und es regelmässig auch tut.

Es geht eben nicht um die Tiefe der Messung, es geht darum die systemischen Tendenzen und Richtungen schnell und grob zu erfassen, so dass man daraus mit Wahrscheinlichkeit einen profitablen Schluss ziehen kann.

Lassen Sie mich das Prinzip als Metapher an einem weiteren, chaotischen System beschreiben, das *weniger* komplex als der Aktienmarkt ist und trotzdem immer noch zu komplex ist, um vollständig "berechenbar" zu sein: Das Wetter.

Stellen wir uns vor wir stehen auf einer Wiese und über uns ziehen die Wolken an uns vorbei. Der Wind frischt auf und die Frage ist, wie wird das Wetter?

Der "Gründler" würde im übertragenen Sinne hingehen, von den Wolkentürmen Schnappschüsse machen und diese aufwändig vermessen. Eine halbe Stunde später macht er wieder Schnappschüsse, vermisst diese wieder und wundert sich, dass diese so völlig anders sind. Dann fängt er an zu theoretisieren, warum die einen Wolkentürme zu den anderen geworden sind und was das bedeuten könnte. Während er theoretisiert, ist das Wetter aber schon wieder ganz anders geworden. Der Wind hat nachgelassen, die Wolkendecke ist geschlossen und ein leiser Nieselregen hat eingesetzt.

Was hat es dem "Gründler" nun gebracht, die Wolken im Detail zu vermessen? Ich sage es Ihnen, er wurde nass. 😉

Ein "Bauer" steht neben ihm. Er hebt seinen Daumen in den Wind, schnuppert herum, schaut zum Horizont und sagt das Wetter wird so und so und wendet sich ab. Und die Wahrscheinlichkeit dass der Bauer die Wetterentwicklung besser voraussagt, ist verdammt hoch.

Was ist der Unterschied? Der Bauer erkennt die grossen systemischen Linien, weil er Erfahrungsmuster die in mehreren Jahrzehnten gewachsen sind, auf die Wetterlage anwendet. Die Details interessieren ihn dabei nicht. Er muss nicht wissen wie gross die Wolken nun genau sind, er muss auch nicht die exakte Windstärke und Richtung kennen und auch nicht den auf einen Kommapunkt berechneten Feuchtigkeitsgehalt.

Es reicht, die grossen Linien der Entwicklung, die Muster einer typischen Wetterentwicklung, schnell zu erkennen und man erreicht damit eine hohe Prognosegüte mit minimalem Aufwand und kann sofort handeln, während der "Gründler" noch rechnet.

Natürlich kann auch mal etwas passieren, was nicht in das Muster des Bauern passt, aber damit muss man leben.

Wetter ist eben keine exakte Wissenschaft und Börse auch nicht! Beide bemühen sich um stochastische Annäherungen und nicht um Exaktheit.

Wie beim Wetter ist es auch an der Börse. Das Ziel ist nicht eine 100% Exaktheit der Analyse und Prognose zu erreichen, das ist sowieso nicht möglich, weil der Markt sich permanent weiterbewegt.

Das Ziel ist, mit 20% des Aufwands 80% der weiteren Entwicklung halbwegs passend zu antizipieren. Und nicht anders herum!

Und dafür ist Mustererkennung und sind Mechanismen hilfreich, die auch der Bauer anwendet. Bauernregeln eben, die zu 80% eintreffen und auf die man sofort und elegant handeln kann.

Eine dieser "Bauernregeln" ist der "Measured Move". Zu deutsch vielleicht "berechenbare Folgebewegung".

Der Measured Move ist wie jede Bauernregel ein höchst unpräzises Konstrukt, er macht ausschliesslich Aussagen im Sinne "Pi mal Daumen" und ist trotzdem oder gerade deswegen hilfreich.

Lassen Sie mich das Prinzip anhand der steinzeitlichen Jagd erklären, auch ein Fall, in dem der Gründler scheitern würde.

Jagen in der Steinzeit bedeutet warten. Und warten. Und warten. Und warten. Denn das Wild lässt sich, wie die Börse, zu nichts zwingen - ausser man hat genügend Menschen für eine Treibjagd. Hier aber geht es um den einzelnen Jäger.

Wenn das Wild nach langem Warten dann endlich vor dem steinzeitlichen Jäger aus dem Gebüsch bricht, steht dessen Gehirn ja vor der immens schwierigen Aufgabe, den Speer in Sekundenschnelle auf ein bewegtes Ziel so zu werfen, so dass er auch trifft.

Auch der Jäger kann und wird da nicht mathematisch exakt heran gehen können und erst Winkel, Geschwindigkeit, Wind, Armkraft, Wahrscheinlichkeit eines Hakens des Wildes usw usw in eine Formel giessen, aus der er dann eine exakte Berechnung des Wurfwinkels seines Arms ableitet. Wäre Jagd so abgelaufen, wäre die Menschheit schon ausgestorben. 😉

Statt dessen wirft der Jäger in einer Zehntelsekunde aus einer Mischung von Instinkt, Daumenregeln und Übung so, dass die Trefferwahrscheinlichkeit sehr hoch ist. Letztlich ist auch das eine Form von Mustererkennung und darin ist unser Gehirn ganz ausgezeichnet und auch heute noch allen Computern weit überlegen, die "exakt rechnen" müssen.

Und so ist es auch beim "Measured Move". Er erfordert wie das Handling des Speers Augenmass und Erfahrung beim Einsatz und hat mit exakten Berechnungen und 100% Gewissheiten schlicht nichts zu tun.

Das Prinzip des "Measured Moves" ist dabei eigentlich trivial. Es sagt, dass der Umfang einer folgenden Struktur mit dem Umfang einer voran gegangenen - auslösenden - Struktur zu tun hat.

Es zielt also auf Symmetrien und sich gegenseitige bedingende Entwicklungen. Oder in anderen Worten, die Strukturen leiten sich auseinander ab und stehen nicht jede für sich im luftleeren Raum.

Je stärker der Jäger also den Arm spannt, desto schneller und weiter wird der Speer fliegen. Trivial.

Je länger und breiter eine Konsolidierung war, desto tendentiell stärker wird also der Ausbruch sein, wenn der sich dann mal in Gang setzt. Das ist die Übertragung obigen Prinzips auf die Börsen.

Oder auch, wenn der Jäger eine lange Strecke rennen muss, wird er tendentiell dazu neigen, in der Mitte eine Pause machen. Nicht direkt nach dem Start und nicht direkt vor dem Ende, sondern mittendrin.

Die Entsprechung am Markt ist, das die Höhe der Bewegung bis zur ersten Konsolidierung ein Indiz des Momentums gibt und damit darauf hindeutet, dass der zweite Teil der Bewegung noch einmal genau so weit gehen wird.

In diesem Stile lassen sich ganz viele solche Symmetrien und Daumenregeln finden und daraus Erwartungen ableiten. Diese Erwartungen sind aber immer im Ungewissen und drücken die Wahrscheinlichkeiten nur ein wenig in die gewünschte Richtung, ohne auch nur einen Hauch von Sicherheit je zu erreichen. Es sind eben Bauernregeln.

Schauen wir doch mal, was diese Bauernregel zum aktuellen Marktgeschehen im Sommer sagen würde. Schauen wir mal auf den DAX:

Wir erinnern uns, beim Prinzip des Measured Move, hat Länge und Umfang einer Aufwärtsbewegung, auch Einfluss auf Länge und Umfang einer folgenden Konsolidierungsbewegung - und umgedreht.

Zwei Schritte vor und einer zurück ist das Motto des Marktes und wenn der Markt zwei sehr lange Schritte gemacht hat, kann man damit rechnen, dass die Konsolidierung eine gute Chance hat einen Schritt - also die Hälfte der Aufwärtsbewegung - anzudauern.

Im Chart oben wurde versucht das zu visualisieren. Die schwarze Linie ist keine Trendlinie, sondern soll nur den Umfang der Bewegung visualisieren.

Und der blaue Kasten? Der ist eine bullische Konsolidierungsphase - bullisch weil es nicht scharf runter geht - die in einem sinnvollen Verhältnis zur vorangegangen Aufwärtsbewegung steht.

Nun weiss ich natürlich auch nicht, ob das so kommt. Alles was ich Ihnen sage ist:

Wir tun gut daran davon auszugehen, dass wir nun eine mehrmonatige "Rumpelphase" vor uns haben.

Es wäre also falsch davon auszugehen, dass es nun sofort markant weiter hoch geht. Nach saisonalen Mustern steht uns nun zwar bis Ende Juli eine kleine Stärkephase bevor, ich rechne auf jeden Fall damit, weil die Quartalssaison positive Antizipation erzeugt.

Wir sollten aber davon ausgehen, dass uns im August und/oder September noch weitere, sehr "rumpelige" Phasen bevor stehen. Und das ist doch eine hilfreiche Aussage im Vergleich dazu nun am 10.07. ohne jedes Konzept zu sein, wie der Markt sich in den folgenden Sommerwochen entwickelt.

Obige Aussage ist ein kleines Beispiel für solche "Bauernregeln", mit denen man - wenn richtig gemacht - sozusagen 80% der Fälle mit 20% des Aufwands erschlägt. Der "Measured Move" ist ein Prinzip das es wert ist, sich damit zu befassen. Es ist sozusagen "Bauernschläue" pur, mit Präzision und Exaktheit hat es rein gar nichts zu tun.

Denken Sie mehr in diese Richtung, auch wenn es dem Typus Gründler gerade wegen der fehlenden Präzision, völlig gegen den Strich geht. Denken Sie einfach immer an den Bauern und das Wetter und den Jäger und den Speer. Es gibt in unserer Welt viel mehr Dinge, bei denen man mit grober Mustererkennung zum Ziel kommt, als Dinge bei den grösstmögliche Präzision das Erfolgskriterium ist.

Die Börse ist so ein "Ding". Und das ist abstrakt nun wirklich eine wichtige Erkenntnis und gar nicht mehr unpräzise, sondern sehr eindeutig!

Ihr Hari

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3 Gedanken zu „Der „Gründler“ und der „Measured Move““

  1. Danke!

    Ein oder zwei Abschnitte oder einzelne Sätze als Zitate gerne, wenn mit Quelle.

    Den Komplett-Artikel kopieren oder grosse Teile davon kopieren: Nein. Auch nicht mit Quellenangabe.

    Letztlich geht es also um das Zitatrecht, das sehr gerne. Eine Gesamtkopie wäre aber kein Zitat, sondern eben eine unerwünschte Kopie.

    https://www.medienrecht-urheberrecht.de/urheberrecht/266-zitieren-aber-rechtlich-richtig.html

    Einzelne Zitate müssen reichen, wer alles lesen will, kann ja hierher kommen.

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