Auf das Hier und Jetzt reagieren

Das Jahr neigt sich dem Ende, es war bisher geprägt von dem ersten, längeren Bärenmarkt seit der Lehman-Baisse 2008-2009. Wir bei Mr. Market haben die wesentlichen Wegscheiden gut erkannt, die Risiken Ende 2021 ebenso, wie die Chancen Anfang Juli und Anfang Oktober und konnten daher gut durch die Stromschnellen steuern.

Wenn ich das hier im freien Bereich so schreibe, dann bin ich mir schmerzhaft bewusst, dass das bei vielen diesen "Prognose-Reflex" auslöst. Bei vielen Anleger ist der Irrglaube leider tief verankert, dass Börsenerfolg damit zu tun hätte, die zukünftigen Kurse zu erraten. Und eine ganze, mediale Finanzindustrie lebt ja davon, diesen falschen Eindruck zu erwecken, dabei hat niemand eine Glaskugel.

Immer wieder predige ich deshalb auch hier im freien Bereich, dass kluges Handeln an der Börse nichts mit Raten zu tun hat und trotzdem treibt unser "Affenhirn" uns Anleger permanent dazu, dem nächsten Scharlatan zuzuhören, der wieder die Zukunft weissagen will. Das "Affenhirn" ist die summarische Metapher für unsere evolutionär angelegten und für die "Savanne" optimierten Verhaltensweisen, die aber in einer komplexen, modernen Welt oft eher in die falsche Richtung weisen.

Kennen sie noch "Asterix" und die Folge "Der Seher", wissen sie noch wie der im Gekröse herumrührt und dabei Nostradamus-Sätze sagt wie:

Flieht! Flieht ihr Törichten! Das ist eure letzte Rettung! Ich habe Euch gewarnt!

Nun, dieser Typus "Seher" ist in den Börsenmedien vielfältig wiederauferstanden und das vor allem deshalb, weil er damit reale Bedürfnisse der Anleger befriedigt. Und auch als Fondsmanager gibt es ihn manchmal, genauso wie den penetranten Schönredner, alles was dem Geschäft dient und "Affen" anlockt ist halt willkommen. 😉

Diese Anleger wollen nämlich gerne Sicherheit und wer ihnen die verspricht, hat schon mal die halbe Miete. Sollte es dann so kommen, hat man neue "Jünger" gefunden und kommt es ganz anders, sind solche Prognosen schnell vergessen, weil man jeden Tag mit anderen Prognosen zugeballert wird, wenn man nur will und danach sucht.

Es ist der unsichere, ängstliche "Affe" in uns, den es nach dieser Pseudosicherheit verlangt und dieser "Affe" kann sich auch gar nicht vorstellen wie das gehen soll wenn ich behaupte, dass kluges Agieren an der Börse mit Prognosen *nichts* zu tun hat, aber vielmehr mit einer unbiased und rationalen Analyse der Situation im Hier und Jetzt.

Auch für die Charttechnik gilt das übrigens, der völlig Unbedarfte ja gerne nachsagen - genauer gesagt von anderen nachplappern - dass das ja nur "bunte Linien" seinen, weil Charts die Zukunft auch nicht kennen. Nein kennen sie nicht, haben sie auch nie behauptet. Da werden Absurditäten widerlegt, die viel über das mangelnde Verständnis derer aussagen, die so argumentieren.

Dabei behauptet doch niemand ernsthaft, dass eine topografische Landkarte wertlos wäre, weil sie den theoretischen Bergrutsch von Morgen noch nicht ausweisen kann. Jeder der das Landkarten vorwerfen würde, würde eher in die Klapsmühle gesteckt, bei Charts trifft so ein Quatsch dagegen auf einen Resonanzboden.

Charts sind einfach Landkarten von Angebot und Nachfrage und ohne geht man auf keine Wanderung. Sie arbeiten Chancen und Risiken heraus und zeigen die Kräfteverhältnisse im Hier und Jetzt, so dass Anleger ihre Handlungen damit diszipliniert strukturieren können, so wie wir auf der Wanderkarte auch unsere Tour planen.

Das hat großen Wert und trennt als Erkenntnis den Profi vom Anfänger. Die Zukunft bleibt aber trotzdem ungewiss im Nebel, die muss man auch nicht kennen, um sinnvoll agieren zu können.

Nun ist diese Predigt ja aber wieder abstrakt, machen wir es doch mal konkret. Schauen wir doch mal, wie sich das Jahr entwickelt hat und an welchen Stellen man sinnvoll reagieren konnte, auch ohne Glaskugel und Prognosen. Bedenken sie dabei, dass zu jedem Zeitpunkt die Lage aus Wahrscheinlichkeiten bestand und nicht aus Gewissheiten:

Im Dezember 2021 war in der Markttechnik deutlich Distrubution sehen, die Strukturen die sich gerne zeigen, wenn das große Geld die Bluechips verlässt. Wir haben das zum Anlaß genommen uns auf eine markante Korrektur im neuen Jahr vorzubereiten, natürlich wussten wir da noch nichts vom Krieg in der Ukraine, von einer FED die "auf den Kriegspfad" geht, wussten wir aber schon.

Im Februar 2022 lief die Korrektur wunderbar nach Lehrbuch und hatte die gute Chance sich wie 2016 zu entwickeln und mit einem Doppelboden im März zu enden. Dann kam Putin und hat das umgeworfen und die Gleichung verändert.

Schon kurz danach Anfang März 2022 war klar, dass der Krieg die Treiber der Korrektur in Form von Inflation und damit verbunden einer aggressiven FED weiter verstärken und die Korrekturbewegung weiter ausdehnen würde. Der Krieg verschärfte also für die Börse wichtige Entwicklungen, die auch ohne Putin schon in Gang gekommen waren.

Im März 2022 habe ich intern die Lage in den laufenden Rebound hinein zum ersten Mal als Bärenmarkt charakterisiert und Ziele im SPX bei 3.800 als wahrscheinlich ausgegeben, mit der Möglichkeit auch bis 3.200 zu fallen, falls sich eine markante Rezession anschliessen sollte.

Danach sind wir über Monate unter der Überschrift "Bärenmarkt" gelaufen und sind den Abgaben so weit wie möglich aus dem Weg gegangen, die im S&P500 >20% Minus und im NASDAQ >30% Minus erreicht haben.

Seit Mitte Juni 2022 waren die ersten Bodenbildungen bei den seit über einem Jahr schwer verprügelten Small-Growth Werten zu sehen.

Seit Anfang Juli 2022 haben wir uns mit der sichtbaren Chance beschäftigt, dass der breite Markt an einem Boden zu arbeiten beginnt. Diese Einschätzung war von vielfältigen Daten geprägt, die bärische Aufstellung der institutionellen Fund-Manager im Juli war ein Baustein dabei, aber auch ein Markt der unter schlechten Wirtschafts- und Inflationsdaten nicht mehr fallen wollte.

Die Rally kam auch mit Macht, aber Ende August 2022 hat Jerome Powell die Hoffnungen in Jackson Hole brutal abgewürgt, die Bedeutung dieser Richtungsentscheidung war leicht zu sehen, zumal der sowieso problematische September bevorstand. Wir sind also schnell wieder in Deckung gegangen.

Anfang Oktober 2022 verstärkte sich der Eindruck, dass der Markt nach oben will, schlechte Nachrichten wurden ignoriert und das eindrucksvolle Reversal des 13.10.22 machte den Eindruck, dass hier vielleicht ein Tiefpunkt erreicht wurde.

Seitdem, seit nun 6 Wochen, spielen wir die laufende Rally, die nach dem 13.10. und den dahinter stehenden Marktmechanismen nur folgerichtig war. Und da stehen wir jetzt, im Hier und Jetzt.

Wir wissen immer noch nicht sicher, ob das nun *der* Boden war, das spielt aber keine Rolle, weil das werden wir immer erst hinterher wissen und Geldanlage ist die Kunst, in Unsicherheit sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

Im Gegensatz zur Zeit von Januar bis Juni und Mitte Augut bis September, als das kein ernsthaft erwogenes Szenario war und wir einfach in Deckung verweilten, ist die Chance auf ein Ende des Bärenmarktes nun aber zumindest real vorhanden.

Diese Chance wird nun vielfältig von der Price-Action und diversen Marktdaten gestützt, aber Sicherheit kann auch das nie verschaffen. Die Kunst ist, sich in die Richtung der Wahrscheinlichkeiten zu lehnen und falls es doch anders kommt, kompromisslos mit einem eingeübten Risikomanagement zu reagieren.

So war es immer an Wendepunkten und so wird es immer sein. So war es auch Ende März 2020, da wusste man auch nicht sicher ob das schon der Boden ist und musste trotzdem darauf reagieren. In dem Fall ist es sich dann ausgegangen.

Die wirkliche Leistung ist also nicht, irgendetwas mit Sicherheit zu prognostizieren - Sicherheit gibt es am Markt nicht, das ist eine Illusion! Die wirklich Leistung ist die Phasen zu erkennen (Januar bis Juni und Mitte August bis Ende September), in denen man besser in Deckung bleibt, weil das Chance/Risiko-Verhältnis sehr ungünstig ist. Und dann die Phasen zu erkennen, in denen die Chancen besser werden und man mal wieder etwas wagen kann und das passiert jetzt.

Und wo stehen wir jetzt? Was wissen wir jetzt, wenn wir die Zukunft nicht weissagen wollen? Erstaunlich viel:

  • Die Chance ist gut, dass der 13.10. den Tiefpunkt markiert hat. Eine gute Chance ist keine Garantie, es bedeutet aber, dass es ein sehr realistischer Pfad ist, etwas was man im ersten Halbjahr auf keinen Fall sagen konnte.
  • Aber selbst wenn doch noch neue Tiefs kommen sollten, was nicht auszuschliessen ist, könnten diese in der 3.300er Unterstützungs-Zone des S&P500 endgültig einen Boden finden. Wir sind also selbst im negativen Fall dem Ende des Bärenmarktes wahrscheinlich näher, als dem Anfang.
  • Die laufende Rally hat die Hoffnung auf eine im Zinszyklus langsamer werdende FED ausreichend verarbeitet. Kurzfristig ist da nicht mehr viel Potential, es bräuchte neue Katalysatoren um die Rally sofort weiter zu treiben.
  • Nun geraten die FED Sitzung am 14.12. und die Inflationsdaten direkt davor in den Fokus und es droht in den US das "Tax-Loss-Selling", das Auskehren der Verlierer-Aktien durch die Anleger - dabei muss man die 30-tägige Karenzzeit, die "Wash-Sale Rule" beachten. Gerade Tech und Growth sollte davon dieses Jahr negativ betroffen sein, was deren Chancen bis zum Jahresende dämpft.
  • Anfang 2023 sollte in den US dann die Rezession auch in den Arbeitsmarktdaten sichtbar werden und wenn dann die FED wg steigender Arbeitslosenzahlen vom Gaspedal geht - die ja ein duales Mandat besitzt - ist der Boden wohl endgültig drin, denn die Geldpolitik ist der größte Elefant im Raum.

Ein schnell entstehender, neuer Bullenmarkt ist also unwahrscheinlich, wir werden weiter Geduld brauchen. Auch die klassische Jahresendrally könnte dieses Jahr ein zu simples Muster sein, denn gerade die kommenden Wochen haben nach der mehrwöchigen Rally nun auch ihre Risiken durch diverse wichtige Daten. Aber ein Anfang des Endes der Baisse ist nun wohl trotzdem gemacht und es ist Zeit, mittel- und langfristig auch mal wieder nach oben zu schauen.

Hier ist ein Szenario, ein möglicher Ablauf, der die obigen Worte in einem Bild visualisieren soll. Wer es jetzt immer noch nicht kapiert hat, das ist *keine Prognose*, es visualisiert nur einen Verlauf, der zu den heute bekannten Daten passen würde, so wie man auch den Weg von Wetterfronten antizipieren kann umd sich vorzubereiten und es am Ende idR trotzdem abweichend ablaufen wird.

In diesem Szenario stehen uns nun ein paar rumpelige Wochen bevor, aber die Tiefs vom 13.10. werden nicht mehr erreicht und im Frühjahr 2023 geht es endgültig nach oben. Wie gesagt ein Szenario, das zu den aktuell bekannten Fakten passt, nicht mehr und nicht weniger. Neue Fakten, werden dieses Bild sofort verändern:

Wer langfristig orientiert ist, sieht also heute auch schon Chancen, die Chance den Markt mit 20-30% "Rabatt" zu kaufen kommt auch nicht jedes Jahr, was übrigens ausdrücklich nun auch wieder -> für Anleihen gilt <-. Ein Zinsniveau von 4-5% im Dollar langfristig einzubuchen, ist sicher nicht die dümmste aller Anlageideen.

Diese Einschätzung ist von unzähligen Daten, Nachrichten, Beobachtungen und Indikatoren unterlegt, die wir alle in den täglichen Streams im Detail besprechen. Es ist also eine Einschätzung im "Hier und Jetzt" die sich jeden Tag fortentwickelt. Wir sind auf jeden Fall nun gedanklich aus der Bärenhöhle heraus und beschäftigen uns auch wieder mit konkreten Chancen, ohne dabei nachlässig zu werden.

Denn nur so kann man eine unbestimmte Zukunft nehmen, immer Schritt für Schritt, so wie wir auch auf einen Berg hinauf kommen. Wer zu Hause auf dem Sofa über den Gipfelsieg schwadroniert und phantasiert kann das tun, den echten Gipfel erreicht man aber nur Schritt für Schritt, immer das Hier und Jetzt im Blick und nicht das Wolkenkuckuckshein.

Wenn sie akzeptieren und erkennen, dass eine kompetente Markteinschätzung die intelligente *Synthese* verschiedenster Beobachtungen ist, wenn sie verstehen, dass es keine absolute Sicherheit gibt, sondern nur Szenarien mit Wahrscheinlichkeiten und wenn sie sich von dem langen Text bisher nicht haben abschrecken lassen, dann sollten sie mal Mr. Market ernsthaft näher treten. Und wenn nicht, dann nicht, dann wünsche ich ihnen trotzdem viel Erfolg!

Ihr Michael Schulte (Hari)

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