Ebbe, Flut und der Trend

Heute habe ich ein paar Zeilen für sie, die ich vor vielen Jahren so ähnlich schon einmal geschrieben habe. Aber da die Prinzipien des Marktes sich nicht wirklich ändern, macht es Sinn, diese wieder in Erinnerung zu rufen.

Ein bischen ist es mein "Wort zum Sonntag", meine "Predigt", was wirklich wichtig ist, wenn man sich langfristig erfolgreich dem Marktgeschehen aussetzen will.

Ich weiss nicht, ob Sie schon einmal in Ruhe am Strand waren und lange die Wellen beobachtet haben. Und versucht haben, dabei ein Muster und eine Entwicklung zu erkennen.

Wenn ja, wissen Sie, dass die einzelne Welle nichts bedeutet. Gar nichts! Die kann hoch oder niedrig sein, aber schon eine Minute später kann sich das als Ausreisser und damit irrelevant heraus stellen.

Was aber Bedeutung hat, ist der Rhythmus, also die Abfolge von Höhen und Tälern. Werden die Täler höher und die Schaumkronen langsam grösser? Dann ist das eine relevante Beobachtung, aus der man Schlussfolgerungen zu Ebbe und Flut ziehen kann.

Und in den Phasen Ebbe und Flut stellt dieses Hin- und Her der Wellen eben einen Trend dar, die Wellen werden langsam entweder höher oder tiefer und es lohnt sich diesen Trend zu kennen, denn am Ende setzt er sich durch, egal wie hoch oder niedrig ein einzelner Ausreisser mal sein kann.

Genau so ist auch der Markt. Der Markt ist ein Meer von Bewegungen und Gegenbewegungen, Ebbe und Flut, Schub und Retracement. Ich nenne das in Trends immer auch das Prinzip von "Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück" und letztlich beschreibt das die gleiche Sache.

Wer versucht, den Markt aus der singulären Warte der nächsten Welle zu betrachten, darf das als Trader tun, wird damit aber als Investor zwangsläufig scheitern. Und wer nach einer großen einzelnen Welle nicht inhärent davon ausgeht, dass sich diese auch wieder zurückziehen muss, darauf aber die nächste Monsterwelle kommen wird, hat das Prinzip von Trends nicht verstanden und wird im falschen Moment das Falsche tun.

Dummerweise denkt so die Mehrheit, weil das systemische, reflexive Wesen des Marktes einfach nicht in den Köpfen ist, selbst wenn zu solchen Weisheiten wohlgefällig genickt wird. Aber hören/lesen und wirklich verinnerlichen, sind eben noch zwei verschiedene Dinge für das Affenhirn.

Unser Drang, die Welt und den Markt mit Prognosen vorherzusagen ist evolutionär so stark, dass wir immer wieder in dieses Denk-Muster fallen, ohne es zu merken. Wir vergeuden dann unsere Zeit damit, den nächsten Schub des Marktes - die nächste Welle - präzise vorher sehen zu wollen. Das macht uns aber blind dafür, die wirklich wichtige Langfrist-Information aufzunehmen, nämlich wie sich das Verhältnis von Wellen und Tälern langsam verändert, denn das - und nur das - gibt uns wie am Strand Auskunft darüber, ob eine Flut kommt oder sich gerade eine Ebbe entwickelt!

Dieses wichtige Prinzip findet sich auch in den Logiken wieder, mit denen ich immer wieder betone, dass nicht der erste Schub einer Aktie alleine, sondern dann auch das Retracement des Schubes, uns etwas über den Marktzustand sagt. Ohne das Tal davor und danach, ist die Welle eben nichts!

Ich weiss, ich weiss, wir würden den Markt am liebsten wie einen Strich in die Richtung laufen sehen, die wir sowieso erwarten. Nur ist diese Vorstellung völlig irreal, das passiert schlicht nicht. Auf Welle folgt Tal, immer! Wollen wir erkennen, ob der Markt zu einer Flut ansetzt, müssen wir also das Verhältnis von Welle und Tal im Auge behalten und die Tiefe des Retracements, ist eine extrem wertvolle Information über den Marktzustand.

So ... eigentlich ist das klar, oder?

Warum verflixt nochmal, werden wir dann selbst nach langen Aufwärtsbewegungen über mehrere Tage (eine große Welle) oft so schnell nervös, wenn dann das Retracement kommt?

Ganz einfach, weil wir unser Augenmerk auf das Falsche richten!

Wir haben diese einsetzende Abwärtsbewegung im Auge, oft noch auf einer falschen, weil zu niedrigen Zeitebene und zittern innerlich und wollen herausfinden, wie tief die morgen und übermorgen gehen wird. Etwas worauf es sowieso nie eine Antwort gibt.

Wenn wir statt dessen einen Schritt zurück gehen und den Rhythmus der Wellen betrachten würden, könnten wir leicht sehen, dass die Gegenbewegung nichts weiter als ein Tal zwischen zwei Wellen sein dürfte und wir immer noch in der Flut sind, solange die Wellen langsam höher werden!

Ein Beispiel gefällig?

Schauen sie mal, das ist Progressiv Corp (PGR, WKN 865496, ISIN US7433151039) ein US Versicherungskonzern mit 73 Milliarden USD Marktkapitalisierung und eine Aktie aus unserem Universum, die ich vor Jahren im Mitgliederbereich mal ausführlich thematisiert habe.

Man sieht das Auf- und Ab der Wellen, man sieht im großen Bild des "Weekly" aber sofort die "Flut" in Form von immer höheren Hochs und Tiefs:

Und das ist eben ein Trend der unser Freund ist und dem wir als Investoren erst einmal vertrauen dürfen - bis er es irgendwann nicht mehr ist, vielleicht morgen, in einem Monat oder erst in 10 Jahren.

Und hier ist dann sogar das Bild mit Quartalskerzen von 1975 bis heute, ich habe mal die wichtigsten Trendphasen markiert:

Es wäre also aus der Sicht eines langfristigen Investors ziemlich idiotisch gewesen, irgendwann wegen eines Wellentales in Panik zu geraten und den übergeordneten Trend zu vergessen. Und das Risiko wäre hoch gewesen, dass man dann nicht mehr hereinfindet und die Aktie wegläuft.

Als Trader dagegen auf kürzeren Zeiträumen, kann ein schneller Ausstieg jede Menge Sinn gemacht haben, dann steigt man aber bei der nächsten Gelegenheit auch wieder ein, idealerweise tiefer. 😉

Also:

Als Trader sollten wir fraglos schnell reagieren, da ist es legitim einen Gewinn sofort einzusacken, sobald ein Retracement sein Haupt erhebt. Als Trader ist man völlig zu Recht an der einzelnen Welle interessiert, weil man auf kürzeren Zeitebenen unterwegs ist!

Als Investor ist das aber grundfalsch, da müssen wir immer die Abfolge der Wellen im Augen behalten, unsere Aufgabe ist es die Muster von Ebbe und Flut zu erkennen, den Wechsel zwischen Bullen- und Bärenmarkt zum Beispiel und das lässt sich eben am Besten im Chart auf Zeitebene Weekly und Monthly erkennen, man muss nur die Augen aufmachen!

Beachten wir als Investoren also die folgenden fünf Regeln:

  1. Vor jeder Entscheidung, gehen wir einen Schritt zurück, um die Lage mit langfristigen Trendlinien oder gleitenden Durchschnitten zu betrachten!
  2. Wir vertrauen dem Trend und folgen ihm, bis er uns irgendwann vom Gegenteil überzeugt und endet. The Trend is our friend!
  3. Wir identifizieren den Rhythmus der Wellen, also Ebbe und Flut und lassen uns nicht von einzelnen Wellen verrückt machen, solange der Trend Bestand hat.
  4. Wir treffen Entscheidungen auf der richtigen Zeitebene und die ist für langfristige Investoren halt Weekly oder noch länger, nicht Daily oder kürzer.
  5. Und wir machen uns nach jeder starken Phase immer klar, dass zwangsläufig bald eine Gegenbewegung kommt und diese einfach zum Spiel dazugehört.

Denn wenn wir mit der Gegenbewegung schon rechnen, dann verliert sie den inneren Schrecken für uns und wir können diese auch gelassen betrachten. Wer sich das nicht klar macht, wird beim ersten Retracement gleich nervös werden und das was er dann macht, ist höchst selten zum langfristigen Vorteil des Anlegers.

Der erfahrene Börsen-Surfer wird also nicht davon überrascht sein, dass ein Retracement kommt und er hat auch keine Angst davor. Er hat den Charakter von Trends und das beständige "Zwei Schritte vor und ein Schritt zurück" dagegen so verinnerlicht, dass er daraus sogar noch seinen Vorteil ziehen kann!

Das aber wäre dann die zweite Stufe der Entwicklung, die erste Stufe ist den Charakter von Trends überhaupt ganz gelassen zu verinnerlichen und nicht mehr von Retracments gegen den Trend überrascht zu werden. Das alleine ist schon eine Aufgabe, die für viele eine Herausforderung ist.

Amen. 😀

Ihr Michael Schulte (Hari)

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