Das Buchhalter-Problem bei der Marktbetrachtung

Ich hoffe, der Berufsstand der Buchhalter wird mir verzeihen, ich hätte es auch das "Ingenieurs-Problem" nennen können, denn ich will zu den Gedankenstrukturen schreiben, die die Welt - und die Börsen - gerne in "Wahr" und "Falsch", in "Korrekt" und "Inkorrekt" aufteilen wollen, die aber für den Umgang mit den Märkten leider völlig ungeeignet sind.

Wir nennen diesen Typus im Forum immer wieder den "Gründler", oder hier eben "Buchhalter". Denn in diesen Denkstrukturen muss eine Sache eindeutig die eine *oder* die andere sein, ein Saldo muss aufgehen, eine Frage muss eine eindeutige Antwort haben und der Meßwert einer Maschine kann präzise ermittelt werden.

Dass ein Sachverhalt aber Mehreres gleichzeitig und Nichts ganz eindeutig ist, ist für solche Denkstrukturen ein Horror. 😉

Und nun schauen wir mal auf den Leitindex S&P500 im Weekly am Mittwoch 19.04.23, können wir hier eine eindeutige Antwort finden, wohin diese Chartstrukturen weisen?

Natürlich nicht, es ist ein "entweder-oder", ein "sowohl-als-auch" aber eben nicht ohne Tendenzen. Nur sind Tendenzen eben keine Gewissheiten.

Die Reaktion von Otto Normalanleger bei solcher Indifferenz lautet dann: "Alles Kaffeesatzleserei. Man kann in der Charttechnik mit der gleichen Struktur das Eine, wie das Andere argumentieren."

Stimmt! Das ist tatsächlich wahr! Aber das Eine und das Andere haben *nicht* die gleiche Eintrittswahrscheinlichkeit, das ist der Punkt solcher Strukturen und ihrer Analyse! Es geht immer um *Wahrscheinlichkeiten*, etwas was den "Buchhalter" wahnsinnig macht, weil der Saldo muss unbedingt eindeutig aufgehen. 😛

Die Kunst bei der technischen Analyse ist es, die dominanten und damit wichtigsten Strukturen des Marktes zu erfassen. Und oben im Chart sehen wir nicht nur eine mögliche Range, wir sehen seit dem 13.10.2022 auch einen Aufwärtstrend mit immer höheren Tiefs und Hochs. Und so ein Trend hat nun einmal eine höhere Wahrscheinlichkeit zur Fortsetzung als zum Gegenteil, oder in anderen Worten, es ist *wahrscheinlicher* dass wir die 4.300 sehen, als dass der Markt wieder zu den Tiefs läuft. Wahrscheinlicher, die Tiefs sind nicht unmöglich.

Hinzu kommt ja, dass Chart keine Zukunft kennen und diese auch nicht vorhersagen können, wie denn auch? Wer so an Charts herangeht, hat rein gar nichts verstanden, Charts sind Landkarten der Marktkräfte im *Hier und Jetzt*, sie zeigen die Erwartungen aller Marktteilnehmer, nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Sollte in 2 Monaten die US in den Default gehen, weil das Debt Limit nicht erhöht wird, *wird* dieser Markt nach unten zusammenbrechen. Und sollte die FED nun nicht nur mit den Zinserhöhungen aufhören, sondern sogar ein neues Quantitative Easing (QE) auflegen, *wird* dieser Markt nach oben durchbrechen und alle Bären grausam *squeezen*.

All das kann niemand heute wissen und auch das Chart daher nicht signalisieren, die Zukunft ist und bleibt unbestimmt. Aber auf Basis des heute vorhandenen Wissens, zeigen die heutigen Marktkräfte eher eine Tendenz nach oben und viel spricht dafür, dass der 13.10.22 den Tiefpunkt markiert hat, wie ich das im Mitglieder-Bereich schon im Oktober letzten Jahres stark vermutet hatte.

Und diese Erkenntnis ist wichtig, weil sie das Beste ist, was wir je bekommen können, "Sicherheit" wird bei der Zukunftsbetrachtung immer eine Illusion bleiben. Wir müssen stattdessen unser Handeln konsequent nach Wahrscheinlichkeiten ausrichten und die verbleibende Unsicherheit einfach akzeptieren.

Der Punkt den ich hier machen will ist also, dass der Markt zu keinem Zeitpunkt eindeutig "schwarz" oder "weiss" ist. Und er ist auch nicht eindeutig in einer bestimmten Struktur, sondern eine Marktsituation ist immer voller "Gewusel" und widerstreitender Signale. Und der Markt ist auch immer voller widerstreitender Muster und Chartstrukturen, die teilweise ineinander verwoben und eingebettet sind.

Die Kunst und die wahre Aufgabe der Markt- und Chart-Technik ist, die wichtigsten, die dominanten Strukturen heraus zu arbeiten und damit handelbar zu machen.

Wer also das "Buchhalter-Problem" hat und von der Charttechnik erwartet, dass sie ihm eindeutig sagen kann, ob der Markt nun Männlein oder Weiblein ist, ob der Saldo sozusagen aufgeht oder nicht, der wird an der Charttechnik verzweifeln und sie wegen der mangelnden Präzision als "Hokuspokus" empfinden.

Und dabei ist wenig hilfreich, dass im Bereich der Charttechnik zu viel gemacht wird, um den eigenen Bias zu bestätigen, statt objektiv die wichtigen Strukturen des Marktes heraus zu arbeiten, weil jeder ja schnell eine bunte Linie malen kann. Oder in anderen Worten: Ja, es wird oft zu viel "Hokuspokus" gemacht, das ist aber nicht die Schuld der Charts, sondern der Menschen, die diese interpretieren.

Wer nicht sehen kann, dass Charts der zentrale, objektive Maßstab sind, der uns etwas über die Marktsituation sagen kann, dem wird langfristig kein Erfolg beschieden sein, sondern er ist dazu verdammt, immer irgendwelchen "Meinungen" hinterzulaufen.

Tatsächlich liegt das Problem also beim Anleger, denn der sucht etwas, was es gar nicht geben kann. Viel schlimmer, der sucht etwas eher "Unnatürliches". Denn natürliche, selbstreferentielle Systeme - wie auch das Wetter - sind nicht eindeutig schwarz oder weiss. Auch das Wetter hat viele Zustände und Faktoren, die sich überlagern und gegeneinander arbeiten. Da gibt es Tiefdruckgebiete und darüber gelagerte Hochdruckzonen, die gegeneinander ringen. Beide sind aber real.

Die Kunst der Wettervorhersage ist, aus all diesen Mustern und Strukturen, die das chaotische Wettergeschehen beinhaltet, die dominanten Strukturen heraus zu arbeiten. Damit wird nicht negiert, dass es auch andere Strukturen gibt, nur sind diese eben im Moment nicht prägend.

Auch beim Wetter geht es also immer um Wahrscheinlichkeiten einer dynamischen Entwicklung eines komplexen, selbstreferentiellen Systems. So auch am Markt.

Und die Leistung und die Kunst gut ausgeführter Marktanalyse ist, die dominanten Strukturen heraus zu arbeiten und zu visualisieren. Die Strukturen, die am ehesten den weiteren Verlauf prägen werden. Auch das sind aber immer nur Wahrscheinlichkeiten und keine Salden, die dann auf Heller und Pfennig aufgehen, also das was der Buchhalter gerne sieht.

Der Markt ist immer widerstreitend, besteht aus unterschiedlichen Strömungen die gegeneinander arbeiten und wandelt sich dyanmisch jede Stunde. Es ist ein schwierige und anstrengende Leistung, daraus mit echter Objektivität die dominanten Strukturen heraus lesen zu können. Der eigene Bias der Recht haben will, ist dabei einer der schlimmsten Feinde.

Es ist also normal, dass ein Markt gleichzeitig bullische und bärische Signale liefert. Eindeutig und statisch ist nur die Buchhaltung, nicht aber komplexe, selbstreferentielle Systeme und aus denen besteht unsere Welt.

Die Kunst ist, die Spreu vom Weizen zu trennen und die entscheidenden Strukturen zu identifizieren. Wenn das gut gemacht wird, liefert Markttechnik wichtige Indizien und wirkt für Aussenstehende wie eine "Glaskugel". Wird es schlecht gemacht, produziert es schlicht "Bullshit". Der Unterschied zeigt sich dann im Depot, ist aber von aussen nicht eindeutig zu identifizieren.

Faszinierend ist in diesem Zusammenhang, dass wir Menschen ja eigentlich Meister der unpräzisen Mustererkennung sind. Genau darin sind wir viel besser als Maschinen.

Wir können in einer Millisekunde sehen, ob ein Gesicht eher freundlich oder feindlich ist. Die auf Präzision ausgerichtete Maschine, muss dafür endlos rechen und ist sich am Ende immer noch nicht sicher.

Wir mit unserer Mustererkennung, ignorieren aber die totale Sicherheit beim Erkennen eines Gesichtes, uns reichen Millisekunden um mit 90% Wahrscheinlichkeit erkennen zu können, ob jemand freundlich ist - und danach handeln wir auch!

Das ist eigentlich unser evolutionäres Erfolgsmodell und diese Fähigkeit müssen wir "nur" auch am Markt anwenden. Präzision und Eindeutigkeit gibt es da nicht, ebenso wenig wie in Gesichtern.

Aber genau diese Erkenntnis, die Notwendigkeit konsequenten Handelns in Unsicherheit, ist für so viele Anleger so furchtbar schwierig, weil sie etwas völlig Unsinniges im Markt suchen: Sicherheit. 😉

Ihr Michael Schulte (Hari)

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