Das Wichtigste

Das Wichtigste muss man immer wiederholen. Denn an der Börse wird das Wichtigste immer wieder verdrängt oder erst gar nicht erst verstanden. Denn das Wichtigste ist keineswegs deckungsgleich mit dem, was am leichtesten verständlich ist. Wäre es anders, wäre jeder an der Börse erfolgreich.

Da werden zum Beispiel Stunden um Stunden in vermeintlich "tiefgründigen" Fundamentalanalysen von Aktien gesteckt ("vergründelt"), die man sich gleich sparen und die Zeit besser am Strand verbringen könnte, weil es kurz - und mittelfristig keinen Vorteil gegenüber dem Markt generieren kann und schon gar nicht für Timing geeignet ist.

Oder es werden Mengen an bunten Indikatoren zu Kurs und Volumen hinzugefügt, im irrigen Gedanken, dass man damit neue Informationen hätte und einen Vorteil gegenüber dem Markt erzielen könnte.

Das Wichtigstes wird aber zu oft beiseite geschoben und nicht einmal verstanden. Es ist der Satz:

Der Markt ist ein selbstreferentieller (reflexiver) Diskontierungsmechanismus!

In diesem Artikel will ich noch einmal aufdröseln, was das für uns bedeutet. Fangen wir mit dem Diskontierungsmechanismus an.

Diskontierung bedeutet, dass erwartete Ereignisse der Zukunft in ihrer Bedeutung in die Gegenwart "zurückgerechnet" werden, also "diskontiert" werden. Oder in anderen Worten, der Markt versucht zu bestimmen, welchen wirtschaftlichen Wert eine erwartete, zukünftige Entwicklung in der Gegenwart besitzt.

Jetzt ist das nichts Geheimnisvolles, jeder von uns funktioniert instinktiv genau so. Auch "der Markt" ist nichts Geheimnisvolles, das sind Sie und ich und jeder andere Marktteilnehmer.

Stellen wir uns vor, wir bekommen die Nachricht, dass bei einer Aktie in einem Jahr wahrscheinlich ein bestimmtes Ereignis eintritt. Zum Beispiel könnten wir die Erwartung haben, dass bei einem Biotech-Wert in einem Jahr eine Freigabe als Medikament erfolgt und dann die Umsätze hochgehen.

Sofort stellt sich dann jeder von uns ganz intensiv die Frage, ob diese Erwartung eines Geschehens in einem Jahr, nicht schon heute einen Kauf sinnvoll macht. Und wenn ja, *wieviel* man dafür bezahlen darf, denn es bleibt ja ein Unsicherheitsfaktor und es macht daher keinen Sinn, den erwarteten, positiven Effekt schon heute zu 100% zu bezahlen.

Genau das ist die *Diskontierung* von zukünftigen, erwarteten Ereignissen. Jeder Markteilnehmer macht das instinktiv, sie, ich und jeder "Guru" auch.

Deshalb interessieren den Markt Vergangenheitszahlen auch nicht, weil die sind in den Kursen. Auch Quartalszahlen interessieren den Markt nicht, wenn die Effekte auf die Vergangenheit beschränkt bleiben und sich daraus keine weiteren Schlußfolgerungen für die Zukunft ableiten.

Man kennt das, wenn Firmen mehr oder weniger erwartete Einmal-Abschreibungen machen, dann zuckt der Markt in der Regel die Schultern, weil sie keine Auswirkungen auf die zukünftigen Kurse haben.

Ganz anders ist es aber, wenn diese Einmal-Abschreibungen die Erwartung nahelegen, dass weitere Abschreibungen in der Zukunft folgen - dann setzt der Diskontierungsmechanismus ein.

Ganz anders ist es auch, wenn eine Firma schlechte Zahlen liefert und die nicht nur eine Eintagesfliege sind, sondern die Vermutung nahelegen, dass das Unternehmen in der Zukunft ganz grundlegend geringere Gewinne machen wird. Auch dann setzt der Diskontierungsmechanismus ein.

Sie können also eine ganze Woche damit verbringen, die vergangenen Bilanzen von Unternehmen durchzuarbeiten, es wird sie keinen Stück der Frage näher bringen, was die Kurse in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr machen. Gehen sie lieber an den Strand. 😛

Fundamentale Betrachtungen haben schon ihren Sinn, um ganz grundsätzlich Unternehmen mit einem Geschäftsmodell zu identifizieren, das auf viele Jahr stabil und aussichtsreich erscheint. Man kann also sehr wohl dauerhaft wachsende und/oder stabile Unternehmen mit einer Fundamentalanalyse ermitteln und insofern sind fundamentale Erwägungen hilfreich bei der Frage, welche Aktien man überhaupt in sein Investment-Depot aufnehmen will.

Aber es hilft trotzdem nicht beim Timing, bei der Frage nämlich, ob die Aktie gerade heute mit Sicht auf Wochen und Monate ein Kauf ist, der zu Gewinnen führen wird.

Der Grund ist wie oben gesagt, dass die Kurse sich alleine über sich verändernde Erwartungen verschieben. Genau in dem Moment, in dem sie bei der oben genannten Biotech-Aktie eine Nachricht erhalten, dass eine Zulassung des Medikamentes in einem Jahr wahrscheinlicher geworden ist, wird sich *heute* der Kurs erhöhen und nicht erst in einem Jahr, weil der Markt die veränderte Erwartung sofort diskontiert.

Genau das habe ich hier schon mehrfach erklärt, so unter anderem auch 2020 in -> Der Markt und die Erwartungen <-. Zitat:

Es sind also immer die Erwartungen, die uns zu Handlungen veranlassen, nicht die Nachrichten selber.

Und der Markt lebt deswegen immer in der Zukunft, mindestens ein paar Monate voraus.

Es ist also nicht das gute Zahlenwerk, das uns zum Kauf animiert, es ist die Erwartung, dass es in Zukunft noch besser wird.

Es ist nicht die Ausschüttung der Vergangenheit, die uns zum Kauf animiert, es ist die Erwartung, dass diese auch in Zukunft fließen und sich noch steigern wird.

Und dieser Mechanismus ist doch nicht auf die Börse beschränkt, er wirkt überall im Wirtschaftsleben. Warum kauft ein Händler eine Ware an? Weil er *erwartet* diese später teurer zu verkaufen. Warum legt sich jemand Goldbarren in den Tresor? Weil er *erwartet*, darin sein Vermögen wertstabil konservieren zu können.

Und wir Menschen lassen uns damit natürlich auch manipulieren. Warum reagieren wir auf Rabatt-Schilder? Weil wir *erwarten*, dass es in Zukunft wieder teurer wird und wir deshalb nun bei „Rabatt“ schnell zugreifen sollten.

Die Erwartung an die Zukunft ist also ein zentrale Faktor, der unser Handeln bestimmt. Nicht nur an der Börse, aber auch.

Nachdem ich nun behandelt habe, warum der Markt ein Mechanismus ist, der zukünftige Erwartungen diskontiert, kommen wir zur Reflexivität, die damit direkt im Zusammenhang steht.

Lesen Sie dazu unbedingt diesen Artikel von 2014: -> Reflexivität - Die wichtigste Börsenerkenntnis überhaupt <-

Denn neben dem Irrglauben, dass sich die Kurse für Fundamentaldaten der Vergangenheit interessieren, existiert auch diese irrige Vorstellung, dass der Markt einen festen Zustand hätte, den man nur genügend erforschen müsste, um zu verstehen, wie sich die Kurse in Zukunft bewegen.

Nichts könnte falscher sein, denn der Markt besteht ja nicht aus toter Materie, sondern aus uns, aus unseren Gehirnen, die permanent versuchen die Zukunft zu diskontieren, um Chancen zu finden und Gewinne zu machen.

Nehmen wir wieder das Beispiel des Biotech-Unternehmens von oben. Wenn ich jetzt meinem Nachbarn der sich für Börse nicht interessiert erzähle, dass dieses Unternehmen in einem Jahr ein tolles, neues Medikament auf den Markt bringen wird, wird es den Markt und die Kurse nicht verändern.

Wenn aber ein bekannter und von vielen verfolgter Biotech-Analyst das schreibt, werden die Kurse *sofort* nach oben springen. Ganz einfach, weil über die Glaubwürdigkeit der Person die Erwartungen verändert wurden und schon wieder die Zukunft diskontiert wurde.

Das bedeutet, man kann gar nicht öffentlich über den Markt schreiben, ohne ihn direkt zu verändern und damit die eigene Aussage ungültig zu machen. Wie stark und schnell er sich verändert hängt davon ab, wieviele auf diese Aussage hören, in ihren Erwartungen also davon beeinflusst werden.

Nehmen wir also eine ideale Person, auf deren Meinung die Mehrheit der Marktteilnehmer hört. Nehmen wir sozusagen einen idealen "Warren Buffett hoch 2" .

Wenn der dann öffentlich sagt, dass das Unternehmen X hoch attraktiv und unterbewertet sei, wird der Kurs *sofort und massiv* anspringen, weil eben Erwartungen angepasst werden. Dabei hat sich an der fundamentalen Realität rein gar nichts geändert!

Und schon wenige Stunden nachdem dieser "Warren Buffett hoch 2" das gesagt hat, wird seine Aussage schon nicht mehr so zutreffend sein wie zuvor, weil das Unternehmen an der Börse nun viel "teurer" geworden ist.

Das genau ist die Reflexivität, weil die Marktteilnehmer soziale Subjekte sind, die auf jede Nachricht mit Handlungen reagieren, die sie als relevant betrachten und ihre Erwartungen verändern.

Genau so wenig wie man also sicher sagen kann, ob Schrödingers Katze lebend oder tot ist, kann man den Markt in einer öffentlichen Aussage zu 100% objektiv beschreiben, weil schon die Beschreibung wieder die Kurse verändert.

Das ist das Beobachterproblem, die Reflexivität. Weswegen zu tiefes "Gründeln" nach Details auch keinen Vorteil verschafft, weil während man gründelt, ist der Markt schon weiter.

Was folgt daraus für Anleger? Kann man sich dann durch Beschäftigung mit dem Markt wirklich einen Vorteil erarbeiten?

Ja, das kann man.

Fundamental kann man es, in dem man aussichtsreiche und gut funktionierende Geschäftsmodelle identifiziert, die langfristig tragen. Damit kann man die "richtigen" Aktien identifizieren, die man beruhigt und langfristig im Depot haben kann.

Man kann damit aber *nicht* vorhersehen, was die Kurse in Wochen oder Monaten machen, das hängt alleine von den Änderungen der Erwartungen ab, die wieder von zukünftigen, neuen Erkenntnissen beeinflusst werden und nicht von Zahlen und Fakten, die allen schon bekannt sind.

Wer also fundamental argumentiert um zu begründen, warum er eine Aktie *jetzt* und nicht erst in drei Monaten kauft, hat etwas grundlegend nicht verstanden. Dass eine Aktie eine "gute" Aktie ist, die man als Investment ins Auge fassen kann, kann man fundamental begründen, nicht aber dass heute ein guter Zeitpunkt dafür ist. Und nein, KGVs und KBVs helfen dabei auch nicht, auch dazu habe ich schon geschrieben.

Und mit der Markttechnik kann man es auch und zwar besonders gut auf den kürzeren Zeiträumen von Wochen und Monaten, zu denen die fundamentale Betrachtung nichts Sinnvolles beiträgt.

Das liegt *nicht* daran, dass Charts die Zukunft kennen. Es liegt aber daran, dass wir alle Menschen sind, die alle nach den immer gleichen psychologischen Mechanismen funktionieren.

In der Markttechnik wissen wir also immer noch nicht was die Zukunft bringt. Wir wissen aber, wie sich Kurse typischerweise verhalten, die vorher einen bestimmten Verlauf genommen haben.

Nicht im Sinne von Sicherheiten, die hat man auch bei fundamentaler Betrachtung nicht. Sondern im Sinne von Wahrscheinlichkeiten.

Und das funktioniert erstaunlich gut, wie ich den Mitgliedern immer wieder Live beweise. Oft wird sich dann gewundert, warum ich so ein "Händchen" für die Marktlage habe und die Antwort ist nicht, dass ich die Zukunft kenne, sondern dass ich sehr genau weiss, wie die Marktteilnehmer auf bestimmte Entwicklungen reagieren und was daraus wahrscheinlich folgt.

Sie sehen, Erwartungen und die Reflexivität bestimmen die Märkte. Niemand kennt die Zukunft, aber trotzdem lässt sich ein Vorteil erarbeiten, der überdurchschnittliche Gewinne ermöglicht.

Das funktioniert aber *nur*, wenn man von vermeintlichen, einfachen Weisheiten ablässt und erkennt, wie wir alle im Angesicht von Unsicherheit agieren und warum der Markt so ist, wie er ist.

Dummerweise ist das, was uns unsere evolutionären Reflexe zu selbstreferentiellen Systemen wie dem Markt einflüstern, in der Regel falsch - wir haben das zum Überleben in der Savanne ja auch nicht gebraucht und wurden damals "gemendelt" und nicht erst in den letzten 100 Jahren. Weswegen auch so viele dabei scheitern, an der Börse auf einen grünen Zweig zu kommen.

Und wenn etwas bei FinTwit oder sonstwo als allgemeine, zu logische Weisheit herumgereicht wird, kann es wegen der Reflexivität kaum mehr eintreffen. Zuletzt erlebt mit den ganzen Rezessionswarnungen, die namhafte "Chefstrategen" seit letzten Herbst verbreiten.

Denn in dem Moment wo die mit diesen Warnungen "Live" gehen, verändern sie schon den Markt, die Möglichkeit dass sie Recht haben könnten wird *diskontiert*. Weswegen der Markt das ideale Trüffelschwein darstellt, leider liegt es in der Natur der Sache, dass er frühzeitig sozusagen 5 der kommenden 3 Rezessionen erahnt. 😛 Will sagen, Erwartungen können sich als falsch herausstellen.

Ich betone erneut, diese grundlegende Erkenntnis ist das Wichtigste, was sie zum Marktgeschehen verstehen müssen. Nicht irgendwelche Indikatoren und auch keine fundamentalen Kennziffern, die uns eine Präzision und Vorhersagekraft vorgaukeln, die es gar nicht gibt.

Aufbauend auf dieser Erkenntnis kann man sich tatsächlich objektive Vorteile erarbeiten, man kann die Marktbewegungen besser antizipieren als andere und man kann die "besseren" Unternehmen im Langfrist-Depot haben, die das dauerhaft bessere Geschäftsmodell haben.

Aber beides erfordert sich von Reflexen zu lösen, die dem "gesunden Menschenverstand" entsprechen und genau deswegen für den reflexiven Markt grundfalsch sind.

Wenn dieser Artikel nur 3% der Leser wirklich erreicht, wird das schon viel sein. Genau deswegen ist Börse so einfach und schwierig zugleich. 😀

Ihr Michael Schulte (Hari)

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