An der Börse nichts Neues

Wenn man - wie ich - sich schon über 30 Jahre mit der Börse befasst und über 10 Jahre aktiv darüber schreibt, erlebt man immer wieder fasziniert, wie jeden Tag jemand Neues aufsteht, der sich wieder auf die Suche nach dem "Heiligen Gral" der Geldanlage macht und nach relativ kurzer Zeit glaubt, diesen gefunden zu haben.

Dann wird laut dafür bei Twitter geklappert, immerhin wurde da ja wahlweise ein Jesse Livermore, Benjamin Graham, Peter Lynch oder André Kostolany wiedergeboren, die Follower steigen, der Glaube nun die "Wahrheit" und den "heiligen Gral der Geldanlage" gefunden zu haben steigt, aber Jahre später wird es ganz still, weil die vermeintliche Wundermethode sich in der Realität nicht bewährt. Natürlich nicht.

Der Grund für diesen ermüdenden, immer gleichen Zyklus ist, dass es erstens diesen "heiligen Gral der Geldanlage" nicht gibt, es gibt keine "sichere Methode" für große Gewinne und zweitens dass es zum Thema Börse auch nichts prinzipiell Neues mehr gibt, denn wie der Markt funktioniert hat schon seit 100 Jahren eine große Zahl echter Börsengurus von Richard Wyckoff bis William O'Neil erkannt. Jede neue Generation packt diesen alten Wein der Börsenweisheit dann nur in neue Schläuche mit neuen Namen, die vielleicht auch erlauben sollen, einen eigenen Claim daran zu kleben.

Die wirklich zentralen Wahrheiten sind aber universell, sind alt und dazu gehört eben auch, dass es Abseits von Insiderwissen keinen "heiligen Gral", keine garantierte Gewinnmethode an den Märkten gibt.

Die wirkliche Leistung, die langfristige Gewinner am Aktienmarkt von Verlierern unterscheidet, ist sowieso nicht eine bestimmte Technik, sondern die Entwicklung der eigenen Denkstrukturen, den richtigen "Mindset" zu finden, um es neudeutsch in "Denglisch" auszudrücken. 😛

Mindestens 50%, nach meiner festen Überzeugung eher 70% des Erfolges, haben nicht mit selektiven Anlagetechniken, sondern mit unseren Denkstrukturen zu tun, denn da stehen wir uns regelmässig im Wege, was ganz besonders für die gilt, die sich dieser Erkenntnis verweigern und fest davon überzeugt sind, dass sie nur genügend graben und "backfitten" müssen, um dann in ihrer unermesslichen Weisheit doch den Anlage-Gral und die Idealmethode zu finden, die hohe Gewinne ohne Stress und Arbeit garantiert. Hach wäre das nicht schön? 😛

Dieser Weg in die Selbsterkenntnis, ist die entscheidende Reise die jeder erfolgreiche Anleger am Ende antreten muss und mit der Selbsterkenntnis findet sich dann auch eine Anlagetechnik, die zur eigenen Psychologie passt und den Weg zum Erfolg weist, weil man genau diese Technik dann auch diszipliniert durchziehen wird. Denn die Straßen der Börsen sind gepflastert mit Anlegerleichen, die zwar einen guten Ansatz hatten, aber am eigenen "Affenhirn" und seinen Disziplinlosigkeiten gescheitert sind.

Über diese psychologischen Aspekte will ich hier und heute aber nicht weiter sprechen, ich will meinen Claim oben belegen und mir eine dieser oberflächlichen "Erfolgsgeschichten" herausgreifen und aufzeigen, dass die Realität im Depot dann doch komplexer ist.

Es geht um die naive Verklärung der 200-Tage-Linie als ideales Timing-Instrument.

Erst vor kurzem ist mir da wieder so ein "aufstrebender Twitterer" begegnet, der mit der Bugwelle der Überzeugung sinngemäß verkündete, dass die 200-Tage-Linie zu handeln ja eine "geprüfte" und "belegbare" Methode sei, zuverlässig den Markt zu schlagen und eine Überperformance zu erzielen.

Seufz. Man ist wohl alt, wenn man Stories schon 100x gehört hat, sie 100x widerlegt hat und jeden Tag wieder ein neuer, eingebildeter "Superinvestor" aufsteht, der nach Followern lechzt. Wirklich Seufz! 😛

Worum geht es bei dem Thema der gleitenden Durchschnitte?

Es geht darum sich ein objektives Kriterium dafür zu geben, mit dem man in Krisen aus dem Markt aussteigen und wieder einsteigen kann.

Und wissen sie was? Das macht gerade für unerfahrene Anleger jede Menge Sinn, automatische, objektive Trigger generieren bei Einsteigern fast immer bessere Ergebnisse als das eigene, diskretionäre Handeln, bei dem diese in der Regel dann immer zu spät daran ist.

Und dafür sind gleitende Durchschnitte wie die 200-Tage-Linie wirklich eine gute Methode, zumindest theoretisch, dann wenn man es wirklich diszipliniert durchhält.

Ich empfehle also ausdrücklich, gleitende Durchschnitte als Handlungsindikatoren zu verwenden, wenn man sich noch nicht so sicher im diskretionären Handeln ist. Gleitenden Durchschnitte machen zur Strukturierung der eigenen Handlungen Sinn!

Bei dieser positiven Aussage geht es aber eben *nicht* darum einen monetären Vorteil zu erlangen, sondern nur darum das eigene Handeln zu strukturieren und disziplinieren!

Oder in anderen Worten, wer es schafft vor einem Lehman irgendwo auszusteigen und ein Jahr später auf gleichem Niveau wieder einzusteigen, hat trotzdem einen Vorteil davon, weil dieser Anleger in der Krise emotional ganz entspannt sein konnte. Kurz, man kauft sich damit innere Gelassenheit und Lebensqualität und das macht jede Menge Sinn!

Also erneut, ich empfehle gerade Anfängern ausdrücklich mit gleitenden Durchschnitten zu operieren, nur sollten diese bitte nicht dem naiven Glauben anhängen, dass sie damit "mal eben" auch eine Überperformance erzielen können!

Das Handeln mit gleitenden Durchschnitten hilft also unsere Handlungen zu strukturieren und uns zu disziplinieren. Nicht mehr und auch nicht weniger!

Nun schauen wir aber mal auf den vermeintlichen Vorteil, den manche da zu finden glauben, die solange mit Daten "backtesten", bis dann theoretisch auch ein Vorteil entsteht.

Es gibt ein Szenario, in dem der Aus- und Einstieg nach gleitenden Durchschnitten tatsächlich einen echten Vorteil verschafft. Und das ist die lange Abwärtsbewegung, in der die gleitenden Durchschnitte sich anpassen können. Dann erfolgt der Neueinstieg in der Regel tiefer als der Ausstieg, echtes *Alpha* ist dann entstanden!

Der klassische Fall dabei war Lehman, da hätte eine Aktion mit der 200-Tage-Linie erheblichen Vorteil generiert. Und weil dieses Event derzeit praktisch in allen Backtesting-Zeiträumen enthalten ist, sehen die oft so gut aus. Man nehme nur diese Event heraus und schon kommen ganz andere Backtesting-Ergebnisse zustande:

Jetzt schauen wir uns mit 2018 aber mal eine Korrektur an die symetrisch war und wenig überraschend ist kein Vorteil mehr zu sehen, mehrfaches Hin und Her hat sogar einen Nachteil generiert:

Richtig unangenehm wird es aber in Seitwärtsmärkten wie 2015/2016, da hat man permanente Fehlsignale, die Kosten und "Lag" produzieren und sich schnell auf 10% Nachteil oder mehr summieren können:

An der Stelle wird sich beim Backtesting dann auch gerne in die Tasche gelogen, denn theoretisch sieht das ja so einfach aus, man agiert genau an der Linie. Nur praktisch funktioniert das oft nicht, denn:

  1. Erstens ist die "Linie" in Realität ziemlich dick, man muss immer ein wenig warten bis ein Kurs wirklich "durch" ist, was einen kostspieligen Nachlauf (Lag) beim Handeln generiert.
  2. Zweitens werden gerne die oft vorkommenden Gaps unterschlagen, denn oft kann man gar nicht an der Linie agieren. Stellen sie sich vor, der Kurs war am Vorabend noch knapp über der 200-Tage-Linie, dann kommt ein Wochenende und am Montag ein Gap um 2% nach unten. Erst da kann man dann agieren. Wenn jetzt am Folgetag über Nacht wieder ein Gap um 2% nach oben kommt, hat man mal eben 4% Performance für nichts verschenkt, das Backtesting mit reinen Zahlen übersieht gerne diese Effekte!
  3. Drittens werden die Gebühren unterschätzt, wenn man wie oben zu sehen in Seitwärtsmärkten manchmal jeden 2. Tag agieren muss, subsummiert sich das ganz erheblich!

  4. Viertens bringen 80%+ der Anleger dafür gar nicht die Disziplin auf, denn wenn man in einem Seitwärtsmarkt 8x in 2 Wochen hin- und hergekauft und dabei viele Verluste produziert hat, werden 80%+ dann "eingreifen" und beim nächsten Trigger länger warten, um nicht sofort wieder in ein Geschaukel zu laufen. Genau dann beliebt aber der fiese Markt gerne zu einer längeren, direktionalen Bewegung anzusetzen und schon wieder hat man einige Prozent Performance verloren. 😉

Ich könnte weitermachen und nein, auch intelligentere Methoden wie das Schneiden zwischen einem kürzer und einem längerlaufenden gleitenden Durchschnitt haben das gleiche Problem. Da kann man in die Vergangenheit hinein immer wieder superbe "Fits" generieren, nur dummerweise gilt immer noch: "Past performance is not indicativ of future results." 😛

Fazit:

Es gibt weiter keinen heiligen Gral, der es erlaubt im Schlafwagen und ohne Anstengung und Anspannung zuverlässig besser als der Markt abzuschneiden!

Seine Handlungen an gleitenden Durchschnitten auszurichten, kann trotzdem jede Menge Sinn machen für Anleger, die objektive Handlungstrigger suchen!

Was man dafür dann bekommt ist "Peace of Mind", also eine Methode, die einen in Krisen halbautomatisch auf die Seite bringt und einem insofern Nerven spart.

Was man auch bekommt ist eine Methode, die hilft die eigenen Handlungen und das eigene Affenhirn zu disziplinieren, wobei das - siehe oben - genau im falschen Moment auch da hereinspuken wird. Man kommt eben nicht umhin, sich der eigenen Psyche zu stellen wenn man am Markt Erfolg haben will, alle anderslautenden Behauptungen sind Lügen oder basieren auf Naivität.

Was man aber mit gleitenden Durchschnitten definitiv *nicht* bekommt ist eine Methode, die zuverlässig eine Überperformance generiert. In der Praxis wird man in der Regel durch Kosten und Lag eine gleiche oder *leicht schlechtere* Performance als der Index bekommen, man muss sich also überlegen, ob das einem der Seelenfrieden und die Handlungsstrukturierung wert ist.

Sie sehen, die Dinge sind komplexer als sie nach Jubelberichten erscheinen. Und erneut, alle wichtigen Erkenntnisse zum Markt liegen schon seit Jahrzehnten vor, die Kunst ist diese anzuwenden und dabei können einem erfahrene Mentoren immens helfen.

Wer dagegen noch nach einem "heiligen Gral" der Geldanlage sucht ist naiv. Und wer diesen anderen anbietet, noch dazu kostenpflichtig, ist ein Scharlatan.

Es ist absolut möglich, regelmässig eine Überrendite an den Börsen zu erzielen und jedes Jahr weit besser als der Durchschnitt und die Indizes abzuschneiden.

Der Weg dahin ist aber mühsam und geht über Selbsterkenntnis, Disziplin, Konsequenz, Engagement und Demut, es ist ein Weg in dem es um einen Edge, um Risikomanagement und eine passende Strategie geht. Eine bestimmte "Wundermethode" taucht in dieser Liste dagegen nicht auf, wenn man das obige Engagement wirklich zeigt, können ganz verschiedene Wege nach Rom führen. 😉

Ihr Michael Schulte (Hari)

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