Es ist wie auf der Titanic. Das Orchester spielt weiter. Mag der Ozeandampfer auch auf einen Eisberg gelaufen sein, der ihm den Rumpf aufgerissen hat, mag der Riese sich im Überlebenskampf stahlächzend aufbäumen: Die Musik spielt weiter.
So auch hier. Es gibt neben Corona und Krise noch anderes; es gibt Muster, sie sind sozusagen die Privatmusik eines nerdigen Börsianers in titanischen Zeiten.*
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Seit dem Beginn meiner Kolumnen bringe ich jeweils als letzten Absatz und zum Abschluss: ein Foto von Reichsmarkgeldscheinen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Einfachheit halber setze ich hier alle Fotos noch einmal untereinander.
Ich schrieb gerade: „der Einfachheit halber”. — Das ist von mir etwas verkürzt formuliert ...
Ich habe durch die Auflistung der Fotos dem Leser Klickarbeit gespart; er hätte sich sonst quer durch Mister-Market und die Kolumnen klicken müssen, falls er sich die Fotos von den Geldscheinen selbst hätte zusammen suchen wollen. Durch meinen Service, die Geldscheine untereinander zu präsentieren, habe ich dem Leser die Wahrnehmung der Fotos einfach gemacht. Gleichzeitig ist der Fotobeschauer von der Menge der Bilder überwältigt: Letztlich sind die Bilder kompakt geschichtete Informationen. Die Reaktion des modernen Lesers: Er scrollt darüber hinweg ... Ihm fällt kaum auf, dass kleine Informationsstückchen weggefallen sind, die in den Originalbeiträgen vorhanden waren. Nämlich die Bildunterschriften, die in den ursprünglichen Kolumnenveröffentlichungen enthalten waren, und die zumindest andeuteten, wann welche Scheine nach dem Krieg in Verkehr gebracht wurden. — Nun ist einerseits ein Zuviel an Informationen da - so viele Bilder! - und andererseits ein Zuwenig. Der schnelle Betrachter (alle sind wir in Eile und wollen Zeit sparen und huschen über die Webseiten hinweg), der im Zeitsparmodus ist und Abkürzungen sucht, siehe -> Musterbruch <-, der schnelle Betrachter ahnt nicht mal, dass ihm gerade Informationen entgehen. Man könnte das als einen Informationsmangel oder eine Informationsverfälschung aufgrund von Informationsüberfluss bezeichnen. Wir sehen Fotos, wir sehen alte Geldscheine: Wir sind überschwemmt mit Informationen und sehen das Muster darin nicht.
Bitte, welches Muster sollen wir überhaupt sehen? Um ein Muster zu sehen, müsste ich wissen, wonach ich suchen soll? — Das ist knapp gedacht. Als Börsenteilnehmer, der Charts benutzt, um sich gegenüber anderen einen Vorteil zu verschaffen, ist es meine Aufgabe, selbstständig das Muster zu finden. Im Reichsmarkgeldscheinbeispiel ist man nicht chancenlos, das für einen Börsianer relevante Muster in dem Informationssammelsurium aus Grafik, Fraktur, Zeitkolorit zu entdecken. In den Bildunterschriften der Originalbeiträge wurde notiert, wann die Geldscheine erschienen sind. Teilweise kann der aufmerksame Betrachter die Daten auch klein auf den Scheinen entdecken. Setzt man die Datumsangaben mit den aufgedruckten Notenwerten auf den Scheinen in Beziehung, lassen sich die Fotos, die Scheine in eine Abfolge bringen.
Lässt man das authentische Flair, die Scheine, die Fotos weg, extrahiert das, was man sucht und bringt es auf eine neue Ebene und in eine andere Form, zum Beispiel in eine Tabelle, wird das Muster offensichtlicher, kann so aussehen:
Eine Seite aus dem Jedermann-Lexikon in 10 Bänden aus dem Jahr 1929. Ich zeichne den Chart nicht auf, den man sich aus den Brotpreisen oder anderen Preisen, die dort aufgelistet sind, konstruieren kann. Diese Charts lassen sich leicht vorstellen und ihre Muster ähneln sich. Von links unten geht die Chartlinie in ihnen nach rechts oben, "exponentiell", um einen Begriff zu verwenden, der auch in der Corona-Krise verwendet wird. Die in solchen Charts gezeichneten Kurven zeigen eine charakteristische Form, nähern sich auf ihrer rechten Seite der Senkrechten an, was offensichtlich eine radikale Reaktion erfordert. — So passierte es auch im Herbst 1923, es kam die Währungsreform und die Rentenmark. Das Muster wies den Weg. Im Nachhinein scheint das trivial zu sein und man denkt, war doch logisch, die Rentenmark musste kommen, bei einer derartigen Inflation. Trivial, also einfach, ist es aber nur in der Rückschau. Wenn man drin steckt im Mustergeschehen, dann muss man das Muster überhaupt erstmal erkennen, um es nutzen zu können.
Ich versuche, das Problem an einem Bild zu zeigen, welches bei Ihnen den Reflex auslösen wird: „Hä, was soll das denn jetzt?!” — Hier ist das Bild:
Was sehen Sie auf diesem Bild 1 … ich warte einige Sekunden, Sie schauen es sich an, und bitte schauen Sie nicht schon auf das nächste Bild. Nein, bitte nicht schon auf das nächste Bild schauen, bitte … aber natürlich haben Sie es getan 🙂 Sie sind in Eile und dort, auf Bild 2, ist die Auflösung:
Es kommt auf die zwölf Punkte an, die auf Bild 1 ebenfalls vorhanden, aber schwer wahrzunehmen sind. Das Spannende ist nun, dass wir die Punkte auf Bild 1 nur schwer erkennen können und: Obwohl wir schnell auch zu Bild 2 schauen, welches die Lösung bringt, die zwölf Punkte auf Bild 1 immer noch nur unter Schwierigkeiten in ihrer Gesamtheit sehen können. Wir das Muster also nur schwierig, fast gar nicht, wahrnehmen können.
Bei dem Punkte-und-Linienbildbeispiel verhält es sich zunächst ähnlich wie bei den Geldscheinfotos: Es gibt ein zu viel an Informationen, sie begraben das relevante Muster. Etwas Neues kommt jedoch hinzu. Selbst wenn wir wissen, wonach wir suchen, selbst wenn wir das Muster kennen, fällt es uns schwer, die für das Muster relevanten Informationen aus Bild 1 herauszufiltern. Wir brauchen einen Mechanismus, der uns hilft, unsere Wahrnehmungsschwäche auszugleichen. Bei den Geldscheinen ist es eine abstrahierende Tabelle und ein daraus abgeleiteter Chart, bei den Punkten im zweiten Beispiel ist es eine Tonwertabschwächung der Linien.
Bringt man den Gedankengang auf die nächste Abstraktionsstufe, so bedeutet das, dass ein weniger an Informationen eine bessere Grundlage für (Investitions-)Entscheidungen sein kann. Das klingt so schön paradox und steil, dass ich hier einen Punkt mache. Zunächst 🙂
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*) Die Titanic ging unter. Der Aktienmarkt wird natürlich nicht untergehen. Es ist nur ein Vergleich.